Cordula Tollmien Ein Herz aus Samt und Seife Leseprobe

 
Am nächsten Tag war zum Glück Samstag und deshalb musste ich noch nicht in die Schule und konnte ausschlafen. Als ich aufstand, waren Ruth und Willi schon im Garten und gruben ein großes Loch.

"Was macht ihr denn da?", wollte ich wissen.

"Das müssen zwei werden und tief genug müssen sie sein, mindestens einen Meter", hat Ruth geantwortet. Aber damit wusste ich immer noch nicht mehr.

"Kommst du allein klar, Willi?", hat Ruth gefragt. "Dann gehe ich mit Alex erst einmal frühstücken und erkläre ihr, was hier läuft."

Willi hat "Aber klar doch!" gebrummt und Ruth und ich sind in die Küche gegangen und dort hat sie mir ihren Plan mit dem Tor erklärt.

Ruth hat vom Umbau ihres Hauses drei große alte Balken übrig behalten, einen kürzeren und zwei lange, die so groß und so schwer sind, dass sie die mit Willi allein gar nicht heben kann.

"Aber da hilft uns heute Nachmittag ein Nachbar", hat sie erzählt. Und aus den drei Balken will sie ein Tor bauen.

„Aber wozu?“, habe ich gefragt.

„Nur so“, hat sie geantwortet. „Zum Durchgehen und Durchsehen. Diese alten dunklen Balken vor dem blauen Himmel, wenn die Sonne scheint, das muss doch wunderschön aussehen.“

„Man könnte eine Schaukel dranhängen“, habe ich vorgeschlagen. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte nur ein Tor.

„Ein Tor zur Welt“, hat sie nachdenklich vor sich hin gesagt. "Weißt du, als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass die Welt irgendwo aufhört. Ich wusste auch genau, wie es da aussieht. Da war eine Mauer, aber keine sehr hohe, ich hätte bequem darüber steigen können. Danach kam eine große Wiese, ungemäht natürlich, mit hohem Gras, ganz gelb, so wie es im Sommer ist, und dahinter kam der Wald, undurchdringlich wie eine dunkle Wand. Und das war das Ende, verstehst du. Ich bin in meiner Vorstellung immer an der Mauer stehen geblieben und habe zu dem Wald hinübergesehen. Und nun will ich mir eben ein Tor bauen, mit dem die Welt anfängt. Es soll keine Tür werden, die man zumachen kann. Nein, ein Tor, das immer offen steht und durch das man von der einen wie von der anderen Seite hindurchgehen kann und immer fängt danach die Welt an. Klingt etwas kraus, nicht? Findest du es sehr verrückt?“

Ich war mir nicht sicher, wie ich es finde, aber als ich Willi und Ruth später beim Löchergraben geholfen habe, hat mir das sehr viel Spaß gemacht. Ruth hatte vorher lange überlegt, wo genau in ihrem Garten sie das Tor hinstellen will und wie groß der Abstand zwischen den Pfosten sein muss, damit der Querbalken oben möglichst genau passt. Sägen wollte sie die Balken nämlich nicht. Das war ihr zuviel Arbeit, weil die Balken aus Eiche waren und deshalb sehr schwer zu sägen.

Am Nachmittag kam der Nachbar. Er hat die Löcher begutachtet und "Hmm!" gesagt, was wohl heißen sollte, dass er zufrieden damit war. Dann haben wir zu viert erst einmal die beiden langen Balken in den Garten geschleppt. Danach war ich schon ganz schön kaputt und Willi und Ruth auch.

"Zum Aufrichten brauchen wir mehr Leute", hat Willi gesagt. Aber der Nachbar meinte, das ginge auch so. Also haben wir einen Balken angehoben und ein Ende vorsichtig in eins der Löcher gleiten lassen. Dann haben Willi und Ruth den Balken von anderen Ende aus langsam aufgerichtet, indem sie unter dem Balken lang nach vorn gelaufen sind und ihn dabei mit ihren Händen hochgestemmt haben. Als er fast senkrecht stand, hat ihn der Nachbar mit beiden Armen umfasst und ihn mit einem Ruck zu sich hin gerissen. Dann stand er. Danach hat der Nachbar ihn noch ein paar Mal in dem Loch hin und her gedreht, damit er richtig ausgerichtet ist. Ich habe ihn bewundert, weil er den Balken allein halten konnte, aber hat behauptet, sobald das Ding einmal senkrecht stehe, sei das nicht schwer.

Dann haben Willi, Ruth und ich schnell Erde in das Loch geschaufelt und sie gut festgestampft. Und damit stand der erste Balken. Wir waren sehr stolz.

"Sieht aus wie ein etwas zu kurz geratener Segelmast, Ruth", hat Willi gesagt.

"Von mir aus auch das", hat Ruth geantwortet. "Hauptsache, er fällt nicht um."

Danach wollten Ruth und ich eigentlich gern eine Pause machen, aber der Nachbar hat gesagt: "Nur keine falsche Müdigkeit vorschützen. Wir machen weiter. Oder glauben Sie, ich könnte meinen Bauernhof bewirtschaften, wenn ich nach jeder kleinen Anstrengung gleich eine halbe Stunde Pause machen würde?"

Also haben wir alle vier wieder angepackt und den zweiten Balken auch in sein Loch gleiten lassen und ihn dann genau wie den ersten aufgestellt.

Dann hat Willi eine Leiter geholt, die haben wir an einen Balken gestellt und der Nachbar hat sich ein Brett unter den Arm geklemmt und ist hochgeklettert. Oben hat er das Brett über beide Balken gelegt, Ruth hat ihm eine Wasserwaage hinaufgereicht und er hat nachgemessen, ob die beiden Pfosten gleich hoch sind. Das waren sie, jedenfalls ungefähr und Ruth hat gesagt, ihr Tor könne ruhig ein wenig schief sein. Der Querbalken dürfe nur nicht runterfallen.

"Der fällt nicht", hat der Nachbar gesagt. "Den nagel ich bei."

Dann ist er die Leiter wieder runtergeklettert und hat zusammen mit Willi den Querbalken geholt. Wir haben gerade überlegt, wie wir den Balken nach oben kriegen, da ist ein Auto vorgefahren. Als erstes kam Tipsy um die Ecke gerast und ist an mir hochgesprungen, als hätte sie mich mindestens ein Jahr nicht mehr gesehen, und dann standen plötzlich Papa, Svenja und Pjotr im Garten. Papa war etwas verlegen. Er hat Ruth die Hand gegeben und Willi und auch dem Nachbarn, und dann hat er gesagt, er wolle nur mal sehen, wie seine Tochter so lebt ohne ihn und ihr ein paar Sachen zum Anziehen bringen. Außerdem sei Pjotr zufällig vorbeigekommen, als sie gerade losfahren wollten, und da habe er sich gedacht, ich würde mich vielleicht freuen, wenn er ihn einfach mitbringt. Das tat ich auch. Ich bin Papa sogar um den Hals gefallen vor Freude.

Danach hat Papa auf die beiden Pfosten gezeigt und wollte wissen, was das werden solle. Ruth, Willi und ich haben alle durcheinander geredet, um es ihm zu erklären. Aber ich glaube, Papa hat kein Wort verstanden. Dafür ist der Nachbar zu Papa gegangen, hat ihn am Arm genommen und gesagt: "Geben Sie's auf. Ich weiß auch nicht, was das soll. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass dieser Balken da oben rauf muss. Und dabei können Sie uns helfen."

Papa ist einen Schritt zurückgegangen, hat sich das Ganze mit zusammengekniffenen Augen angesehen und dann gesagt, dass wir eine zweite Leiter bräuchten. Ruth hat mindestens zehn Leitern, also war das kein Problem.

Papa hat die Leiter an den anderen Pfosten gestellt und dann zu dem Nachbarn gesagt: "Sie gehen hier hoch und ich dort. Den Balken nehmen wir zwischen uns. Das schaffen wir, oder?"

Der Nachbar hat genickt und beide haben sich auf die unterste Sprosse ihrer Leiter gestellt. Ruth und Willi haben den Balken hochgewuchtet und ihn Papa und dem Nachbarn vor den Bauch gelegt. Papa hat kommandiert und die beiden sind immer gleichzeitig und mit Hauruck eine Sprosse höher geklettert, den Balken vor sich. Sie haben gestöhnt und geschrien, dass wir bloß unter der Leiter wegbleiben sollen, falls der Balken abrutscht. Aber sie haben es tatsächlich geschafft. Noch ein letzter Hauruck und der Balken lag oben auf den beiden Pfosten.

Papa ist von der Leiter gestiegen und hat gesagt: „Ich brauche Hammer und Nägel, große Nägel, ich will den Balken da oben wenigstens beinageln, damit er nicht beim ersten Sturm runterfällt.“

Der Nachbar, der auch wieder runtergeklettert war, hat Papa angegrinst und gesagt. "Ich sehe, wir verstehen uns."

Ruth hat die Nägel geholt und den Hammer, und Papa und der Nachbar haben oben noch einmal ganz schön geschwitzt, bis sie auf allen vier Seiten je zwei Nägel in die Pfosten eingeschlagen hatten. Denn Nägel in Eiche einzuschlagen, ist wirklich verdammt schwer. Durch den Balken hindurch, wäre das gar nicht gegangen. Deshalb haben sie die Nägel nur ganz nah am Querbalken ein Stück in die Pfosten reingeschlagen und zwischen den rausstehenden Nägeln lag dann der Querbalken. So konnte er nicht mehr runterrutschen. Nach viel Fluchen und mindestens fünf krummgeschlagenen Nägeln hatten sie es endlich geschafft. Sie sind von der Leiter gestiegen und haben stolz ihr Werk betrachtet.

"Sieht aus wie ein Tor", hat Papa gesagt und Ruth hat begeistert genickt. "Genau das ist es."

„Und nun?“, hat Papa gefragt.

„Durchgehen“, hat Ruth geantwortet.

„Wozu denn das?“, wollte Papa wissen.

„Das ist das Tor zur Welt“, habe ich erklärt. „Wenn du durchgehst, fängt danach die Welt an.“

Papa hat mich angesehen, als wollte ich ihn veräppeln. „Ich mache mich doch nicht lächerlich“, hat er gesagt.

“Bitte, Papa“, habe ich gesagt, „geh durch! Du musst es probieren.“ Und Svenja hat auch gerufen: „Ja, Papa, durchgehen!“

Pjotr und Willi haben eifrig genickt. Nur Ruth war still und der Nachbar auch. Der dachte wahrscheinlich wirklich, dass wir spinnen.

Papa hat alle der Reihe nach angesehen, aber er wollte immer noch nicht. „Nun gehen Sie schon“, hat Willi gesagt.

Und da ist Papa tatsächlich durchgegangen.

„Und nun wieder zurück!“, habe ich gerufen. „Jetzt fängt die Welt auf der anderen Seite an.“

Und Papa ist noch einmal durch das Tor gegangen. Danach hat er gegrinst und gesagt: „Ich muss schon sagen, ein erhebendes Gefühl. Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch einmal den Anfang der Welt zu sehen kriege. Und das von zwei Seiten.“

Da haben wir alle gelacht, auch Papa, und dann sind wir alle mindestens hundertmal durch das Tor gelaufen, auch Tipsy und Distel und sogar der Nachbar. Schließlich haben wir uns an den Händen gefasst und einen Pfosten in unsere Mitte genommen und einen Kreis gebildet und Ruth hat ganz andächtig gesagt: "Anfang und Ende verbunden."

Papa hatte recht: Es war wirklich ein erhebendes Gefühl.

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